Liebe Leserin, lieber Leser, die Nachricht, dass sich in Thüringen ein FDP-Politiker mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ, dürfte Sie schon erreicht haben. Thomas Kemmerich, übrigens gebürtiger Aachener, und seine Parteifreunde haben den bisherigen Konsens eiskalt unterlaufen, um an die Macht zu kommen. Die FDP wird dafür bei künftigen Wahlen einen politischen Preis zahlen; plötzlich steht sie in der rechten Ecke. Und das alte Wende-Image, sie mache alles mit, um zu regieren, erhält neue Nahrung. Christian Lindner hatte eine Jamaika-Koalition im Bund noch als untragbaren Kompromiss bewertet, aber mit der AfD sieht man Gemeinsamkeiten? Das kann nicht sein, deswegen rüffelt er auch seine Parteifreunde in Thüringen. Doch es geht nicht nur um die FDP. Ein Tabubruch war die Wahl Kemmerichs, aber es wird nicht der letzte im Umgang mit der in weiten Teilen rechtsextremen AfD bleiben. In allen 16 Landesparlamenten sitzt sie, im Bundestag stellt sie die stärkste Oppositionsfraktion. Falls sie sich nicht bald selbst demontiert und in der Bedeutungslosigkeit verschwindet wie einige rechte Parteien vor ihr, stellt sich die Machtfrage unweigerlich bald wieder. Sollen wir ungerührt zusehen, bis die erste Koalition mit der AfD steht? Unser Politik-Chef Dr. Martin Kessler beurteilt die Lage optimistischer als ich. In seiner Analyse äußert er die Hoffnung, dass unsere Demokratie den Spuk aushält und überwindet. Aber auch er schreibt: „Eine Gewähr dafür gibt es nicht.“ Am späten Abend folgte dann eine weitere - allerdings weniger überraschende - politische Nachricht mit großer Tragweite: Der US-Senat hat Donald Trump von allen Vorwürfen freigesprochen. Das Amtsenthebungsverfahren gegen den US-Präsidenten ist damit gescheitert. Mehr dazu lesen Sie hier. Es ist in diesen Tagen viel vom Kohleausstieg die Rede. Unser Chefkorrespondent Dr. Matthias Beermann, der technischen Fragen leidenschaftlich gerne auf den Grund geht, hat dieses deutsche Thema aus einer globalen Perspektive betrachtet. In seiner Analyse „Süchtig nach Kohle“ fragt er, wieviel der deutsche Weg eigentlich wert sei, wenn gleichzeitig in Asien ein Kohlekraftwerk nach dem anderen ans Netz geht. Einer muss ja anfangen – diese Meinung lässt sich durchaus vertreten. Nur sollte man nicht die Augen vor bitteren Wahrheiten verschließen, und dabei hilft sein Text. Mich erinnert das auch an den Siemens-Chef Joe Kaeser, der den gesamten Konzern auf Nachhaltigkeit zu trimmen versucht und vor der Hauptversammlung gestern einigermaßen hilflos konstatierte: „Insoweit mutet es fast schon grotesk an, dass wir durch ein Signaltechnik-Projekt in Australien zur Zielscheibe zahlreicher Umwelt-Aktivisten geworden sind.“ Den Bericht über das Jahrestreffen der Siemens-Aktionäre lesen Sie hier. Wohin man heute auch blickt, es entstehen Widersprüche zwischen nationaler und globaler Perspektive, zwischen Klein und Groß, zwischen Alltagsverhalten und Überzeugung. Je länger wir sie hinnehmen, desto weniger werden wir hinkriegen. Falls Sie das auch so ratlos wie mich macht: Mutlosigkeit ist nie gut. Ein Mensch, der für diesen Grundsatz besonders steht, ist Britta Meinecke-Allekotte aus Dinslaken. Vor gut zwei Jahren musste ihr nach einem Unfall die linke Hand amputiert werden, aber die OP-Schwester hat inzwischen ihre anspruchsvolle Arbeit wieder aufgenommen – und trägt nun eine Prothese. Sie wolle anderen zeigen, was alles möglich ist, sagt sie. Ihre Geschichte lesen Sie hier. Das, finde ich, taugt als Ermutigung nach Erfurt und Berlin: Politik wird gerne als die Kunst des Möglichen beschrieben. Das sollte aber gerade nicht heißen, sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufriedenzugeben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für den heutigen Tag alles Mögliche. Ihr Moritz Döbler Mail an die Chefredaktion senden P.S.: Wenn Ihnen dieser Newsletter gefällt, empfehlen Sie die "Stimme des Westens" weiter! |